Der folgende Text erschien im Sommer 2012 im Newsletter des Instituts für Musik der Hochschule Osnabrück, hier illustriert mit Skizzen von Mari-Luise Schulz (Braunschweig 2013).
Beim Klassenmusizieren werden Kinder im Klassenverband an das aktive Musizieren herangeführt. In einigen Schulen gibt es Bläserklassen, Streicherklassen und inzwischen auch Chorklassen. Diese Form der gemeinsamen Aktivität ist unbestritten eine sinnvolle, verschiedene Kompetenzen fördernde und das ganze Leben prägende positive Erfahrung.
Musikpädagogen, die das Klassenmusizieren anleiten, werden bei den Kindern zu Beginn elementare musikalische Voraussetzungen schaffen müssen, bevor das Musizieren auf einem Instrument möglich ist. Eine wesentliche Grundlage für die musikalische Bildung und gemeinsames Musizieren ist der selbstverständliche Umgang mit der eigenen Singstimme, die sich in den Gruppengesang einordnen kann.
Das Singen mit Kindern bietet außerdem die Möglichkeit, neben modernen Liedern ein wichtiges Kulturgut weiterzugeben: Das in unserem Volk über Jahrhunderte verwurzelte Volks- und Kinderlied. Auf der Grundlage des Gesangs und damit verbundener reicher musikalischer Erfahrung ist das Erlernen eines Instrumentes dann eine logische Ausweitung der Musizierpraxis und wird bestimmt von den meisten Kindern mit Begeisterung und Lernwillen angenommen.
Aber auch ohne ein weiterführendes instrumentales Musizieren im Blick zu haben, ist das eigene Singen eine wunderbare Bereicherung im Leben. Mit unserer Stimme haben wir alle ein Instrument in uns, dessen Benutzung körperliches Wohlbefinden schafft und das zu jeder Zeit als Ausdruck unseres Herzens und unserer Seele erklingen kann. Singen tut gut und jeder kann es, der damit vertraut ist und es von Kindheit an praktiziert hat.
Leider ist es Tatsache, dass es zu wenig Musiklehrer gibt, und dass der Musikunterricht oft ausfällt oder von Neigungslehrern unterrichtet wird. So wird das Singen in der Grundschule oft als ein Mitsingen mit der CD praktiziert, oft in zu tiefer Tonlage. Es muss aber eine eher hohe Tonlage gewählt werden, damit die Kinder Erfahrungen mit ihren stimmlichen Möglichkeiten machen können. Die von Erwachsenen gern bevorzugte entspannte und tiefere Stimmlage, die auch ihre Sprechstimmlage ist, entspricht nicht den physiologischen Gegebenheiten der Kinderstimme, die heller und höher klingt.
Da das natürliche, im Volk verwurzelte Singen – weitergegeben über die Generationen – in den letzten Jahrzehnten aus verschieden Gründen sehr vernachlässigt wurde, fehlt vielen Erwachsenen eine selbstverständliche Singpraxis in der für die Kinder nötigen Tonhöhe, und sie sind verständlicherweise auch unsicher beim Singen. Die Experten fragen sich: Wie ist dieser Einbruch eines wesentlichen Kulturgutes aufzuhalten und zu reparieren?
Mit dem Start des neuen Studienprofils Vokalpädagogik 2004 verbunden war die Idee, Fachleute auszubilden, die an der Basis mit Menschen jeden Alters natürlich und selbstverständlich singen können und die Anleitung dafür übernehmen. Dabei ist das Hauptaugenmerk nicht (nur) auf die künstlerische Elite gerichtet, sondern auf die Möglichkeiten, die in allen Menschen angelegt sind und von vielen gern verwirklicht werden wollen. Es geht darum, das Singen wieder in den Familien und damit auch in der Gesellschaft zu etablieren. Gemeint ist das natürliche Singen, das ohne jede Technik und auch ohne instrumentale Begleitung praktiziert werden kann. Dieses Ziel ist am besten über die Kindergärten und Schulen zu verfolgen, denn dort können alle Kinder erreicht werden.
Im Schuljahr 2007/2008 begann folgerichtig das Forschungsprojekt „Vokales Klassenmusizieren“ des Institus für Musik der Hochschule Osnabrück in Kooperation mit der Heinrich-Schüren-Schule in Osnabrück. Seitdem erhalten dort alle 1. Klassen und 2. Klassen Musikunterricht bei Dozenten für „Singen mit Kindern“. Eingebunden sind Hospitationen und Praktika für Studierende der Hochschule, damit zukünftig kompetente Musikpädagogen die wichtige Aufgabe übernehmen können, das gegenwärtige gesellschaftliche Defizit auszugleichen.
Weitere Forschungs- und Praktikumsfelder bieten sich in Zusammenarbeit mit dem ChorVerband NRW e. V. innerhalb des Singförderprojektes „Toni singt“. Im Pilotprojekt „Toni in der Schule“, das in der Gräfin-Maria-Bertha-Grundschule in Borgholzhausen verankert ist, erhalten die Kinder vier Grundschuljahre lang vokal orientierten Musikunterricht von einer Dozentin der Hochschule. Parallel dazu werden die beteiligten Lehrerinnen für diesen Unterricht qualifiziert, der dadurch in allen Klassen der Schule gegeben werden kann.
Das vokale Klassenmusizieren in diesen beiden Grundschulen ermöglicht allen Kindern der jeweiligen Klassenstufe einmal in der Woche im Musikunterricht, das Singen als eine emotionale Ausdrucksform für sich zu entdecken. Indem die Kinder zur Ruhe zu kommen, Stille „hören“, einer Melodie lauschen und in den Gesang einstimmen, nehmen sie sich selbst wahr und finden zunehmend ihre Stimme. Das Singen in Verbindung mit Bewegung erfordert und fördert Körperbewusstsein und Koordinationsvermögen; Wahrnehmungen und Fähigkeiten, die bei unseren Kinder heute keineswegs selbstverständlich vorhanden sind und manchmal lange geübt werden müssen.
Ein großer Teil der musikalischen Bildung erfolgt über eine Vielfalt von methodischen Möglichkeiten mit relativer Solmisation (dem Benennen von Tönen mit Silben) und einer Rhythmussprache, die ohne viele Umwege zur herkömmlichen Notation führt.
Im Unterricht wird soviel wie möglich gesungen, begleitet durch Körperperkussion und gekoppelt mit verschiedenen Bewegungsformen und Gesten. Dabei ist es von Anfang an üblich, dass die Kinder auch allein singen, eingebettet in das Echosingen der ganzen Klasse. Elementares Instrumentarium kommt zum Einsatz als Liedbegleitung. Das Liedrepertoire besteht aus verschiedenen Liedformen wie z. B. Strophen- und Refrainliedern, Kanons und Singspielen aus verschiedenen Entstehungszeiten. Ein Lied wie „Hänschen klein“ muss tatsächlich von manchen Schulkindern erst gelernt werden, wird dann aber sehr gern gesungen.
Die Lieder und Singspiele bilden einen Schatz, mit dessen Hilfe die Kinder lernen, Spielregeln einzuhalten und die gemeinsame Ausführung als Voraussetzung für das Gelingen zu erleben. So z.B., wenn sie im Kanon singen und dazu tanzen. Bei der Abschlussaufführung der 4. Klassen in der Grundschule in Borgholzhausen wurde deutlich, dass alle Kinder einen Zugang zum Musik Erleben gefunden haben und viele eine große Kompetenz im praktischen Musizieren erreichten.
Barbara Völkel, Dozentin für die Didaktik des vokalen Klassenmusizierens